ABWÄRME ALS NEU ENTDECKTE RESSOURCE
Seite 1/1 8 Minuten
Herr Lohse, das Wort Abwärme ist seit langer Zeit eher negativ behaftet. Dass gerade die bisher als ineffizient geltende industrielle Abwärme eine entscheidende Rolle in der Energiewende und bei der Senkung des CO2-Footprints spielen könnte, hätte sich wohl vor 20 Jahren kaum jemand denken können ...
Klar ist, dass wir die Ziele der Wärmewende verfehlen werden, wenn wir den Bereich der industriellen Prozesswärme nicht besser adressieren! Die Nutzung von technisch nicht vermeidbarer Abwärme hat hier zweifelsohne ein großes Potenzial und spielt damit auch im Rahmen der Dekarbonisierung eine zentrale Rolle. Jede Einsparung und Effizienzsteigerung hilft – denn weniger Verbrauch bedeutet, dass weniger Energie erzeugt werden muss.
Insofern kann die Nutzung unvermeidbarer Abwärme in ihrer Bedeutung mit erneuerbaren Energien gleichgesetzt werden ...
... um eine größere Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern zu erreichen, ja. Für Lebensmittelproduzenten bedeutet das, dass bei gleicher Produktionsmenge weniger Primärenergie in den Einsatz gebracht werden muss. Durch die effiziente Nutzung von Abwärme können Lebensmittelhersteller nicht nur gesetzliche Vorgaben erfüllen, sondern in vielen Fällen auch erhebliche Kosteneinsparungen erzielen. Voraussetzungen dafür sind eine umfassende Energiebilanz und eine Analyse der Wirtschaftlichkeit.
Unter dem Strich kann sich die Nutzung von Abwärme also rechnen ...
Deshalb sollten neben den aktuellen Einsparungen immer auch die langfristige Entwicklung der Energiekosten sowie mögliche staatliche Fördermittel berücksichtigt werden. In der Regel lohnt es sich, externe Expertise hinzuzuziehen und gemeinsam mit einem Spezialisten alle Facetten zu betrachten. Zudem können die Unternehmen durch die Wiederverwendung von Abwärme ihren CO2-Ausstoß deutlich verringern.
Nun gewinnt das Thema Abwärme nicht nur durch steigende Energie- und CO2-Kosten, sondern auch durch Maßnahmen des Gesetzgebers weiter an Dringlichkeit – unter anderem in Form des neuen Energieeffizienzgesetzes (EnEfG). Welche Ziele werden damit verfolgt?
Deutschland setzt sich mit dem EnEfG verbindliche Einsparziele bis 2030, 2040 und 2045, sowohl für den Endenergie- als auch den Primärenergieverbrauch. So soll beispielsweise der Endenergieverbrauch bis zum Jahr 2030 um 26,5 Prozent im Vergleich zu 2008 gesenkt werden. Konkret sprechen wir hier über 680 Terawattstunden allein für den Sektor Industrie. Längerfristig soll der Verbrauch um rund 45 Prozent reduziert werden. Um diese ambitionierten Ziele zu erreichen, wird mit dem EnEfG erstmals ein sektorübergreifender Rahmen zur Steigerung der Energieeffizienz geschaffen.
„Wir werden die Ziele der Wärmewende verfehlen, wenn wir den Bereich der industriellen Prozesswärme nicht besser adressieren.“
Was müssen die Unternehmen jetzt beachten?
Die Vorgaben zur Ersparnis sind im EnEfG geregelt. Diese beinhalten etwa eine Pflicht zu regelmäßigen Energieaudits oder der Einführung eines Energie- oder Umweltmanagementsystems. Lebensmittelunternehmen, deren Verbrauch über bestimmten Grenzen liegt, sehen sich also neuen Anforderungen gegenüber. Dazu gehört die Pflicht, Informationen über ihren Energieverbrauch an die Bundesstelle für Energieeffizienz (BfEE) weiterzugeben.
Im Kern geht es also darum, Behörden und Unternehmen dazu anzuhalten, Energie so effizient wie möglich zu nutzen ...
... um dadurch zu einer Reduzierung des Primärund Endenergieverbrauchs sowie des Imports und Verbrauchs von fossilen Energien beizutragen. Dabei ist künftig nicht mehr die Unternehmensgröße ausschlaggebend. Vielmehr kommt der Energieverbrauch als Maßstab zum Tragen, das heißt: Auch kleine und mittelständige Unternehmen, wie sie typisch für die Lebensmittelbranche sind, werden von den Regelungen des EnEfG adressiert. Auf sie kommen neue Pflichten zu und sie müssen beispielsweise Maßnahmen zur Abwärmenutzung ergreifen.
Wer ist konkret betroffen?
Sofern Unternehmen mehr als 2,5 Gigawattstunden pro Jahr an Endenergie verbrauchen, müssen sie innerhalb von drei Jahren konkrete, durchführbare Umsetzungspläne erstellen. Diese sind auch zu veröffentlichen. Vollständigkeit und Richtigkeit der Pläne sind durch Zertifizierer, Umweltgutachter oder Energieauditoren zu bestätigen. Verbraucht ein Unternehmen mehr als 7,5 Gigawattstunden pro Jahr an Endenergie, muss es ein Energie- oder Umweltmanagementsystem einführen. Wichtig in diesem Zusammenhang: Das EnEfG sieht nach § 17 die Schaffung einer "Plattform für Abwärme" vor, die am 15. April dieses Jahres freigeschaltet wurde – sie ist eines der wichtigen Instrumente des Gesetzes.
Was bedeutet das in der Praxis für die Lebensmittelunternehmen?
Sie werden verpflichtet, ihre Abwärmepotenziale zu identifizieren und zu quantifizieren. Die gewonnenen Erkenntnisse sind dann an die BfEE zu übermitteln, um sie auf der "Plattform für Abwärme" öffentlich zugänglich zu machen. Die Plattform ermöglicht damit erstmals deutschlandweit eine Übersicht zu den gewerblichen Abwärmepotenzialen. Wir empfehlen allen Unternehmen, zeitnah zu prüfen, ob und welche Abwärmepotenziale an die Plattform zum 1. Januar 2025 gemeldet werden müssen. Zu den konkreten Auskunfts- und Informationspflichten hat die BfEE ein Merkblatt veröffentlicht.
Was ist das Aufgabe der "Plattform für Abwärme"?
Im Sinne eines Abwärme-Katasters dient die Plattform dem Informationsaustausch und zur Vernetzung von Unternehmen und Energieversorgern. Hierdurch soll der Blick über den Tellerrand zum "Nachbarn" als möglicher Wärmelieferant oder -abnehmer geschärft werden. Insbesondere soll die Plattform genutzt werden, wenn die anfallende Abwärme nicht innerhalb des Unternehmens vermieden oder wiederverwendet werden kann. Bevor aber über die Weitergabe von Abwärme an Dritte nachgedacht wird, sollte immer zuerst die Eigennutzung in Erwägung gezogen werden.
Weltkonzerne finden sich in der Lebensmittelbranche genauso wie regional orientierte, kleine und mittelständische Betriebe. 2,5 Gigawattstunden klingen da als Schwellenwert erst einmal sehr abstrakt ...
Auch wenn die Unternehmen sehr heterogen sind, so gleichen sie sich doch in den Prozessen, in denen Effizienzpotenziale bestehen: Prozesswärme und -kälte, Druckluft oder elektrische Antriebe. Ein Energieverbrauch von jährlich mehr als 2,5 Gigawattstunden kann also bereits in Großbäckereien mit entsprechend vielen Filialen anfallen. Um Ihnen ein konkretes Beispiel aus dem Braugewerbe zu geben: Die Bayerische Staatsbrauerei Weihenstephan weist in ihrem Nachhaltigkeitsbericht für 2024 bei einer Produktionsmenge von rund 450.000 Hektolitern Bier einen Gesamtenergieverbrauch von 17,4 Gigawattstunden aus.
Im Verlaufe des Gesprächs stellt sich zwangsläufig die Frage, was Abwärme ist und was Abwärmequellen sind?
Abwärme ist der Teil der Wärme, der als ungewolltes Nebenprodukt in einem Prozess oder einer Anlage entsteht und ungenutzt in die Umgebung abgegeben wird. Abwärme ist in der Regel mit bestimmten Medien verbunden, wie Abgasen, Dämpfen, Thermoölen und Prozesswässern. Eine Abwärmequelle ist jede geführte oder diffuse Quelle einer Anlage, welche die Wärme abgibt.
Welches sind die typischen Prozesse, in denen große Mengen Abwärme entstehen? Gibt es Branchen in der Lebensmittelindustrie, die besonders betroffen sind?
In der Lebensmittelindustrie sind zunächst Molkereien, Käsereien und Brauereien zu nennen, in denen, immer abhängig vom Produktportfolio, größere Mengen an Abwärme entstehen. Typische Prozesse sind etwa Erhitzungs- sowie Kühlprozesse, die direkt auf das Produkt ausgerichtet und einwirkend sind. Ebenso spielen sogenannte Sekundärprozesse oder auch Medienerzeugungsprozesse, wie Kälte- und Druckluftanlagen sowie Heißwasseroder Dampfkesselsysteme, eine wesentliche Rolle im Zusammenhang mit Abwärme.
„Bevor über die Weitergabe von Abwärme nachgedacht wird, sollte zuerst immer die Eigennutzung in Erwägung gezogen werden.“
Wie unterstützen Sie Lebensmittelproduzenten bei ihren Meldungen an die BfEE und bei der Identifikation beziehungsweise Umsetzung entsprechender Effizienzmaßnahmen?
Als Ingenieure analysieren wir die Produktionssowie Sekundärprozesse zielgerichtet auf Schwachstellen. Grundsätzlich raten wir unseren Kunden, sofern noch keine umfassende Datenstruktur vorliegt, einen Transformationsplan aufzusetzen. Dieser wird durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) im Programm "Energie- und Ressourceneffizienz in der Wirtschaft", kurz EEW, mit dem Modul 5 unter bestimmten Voraussetzungen und abhängig von der Unternehmensgröße mit einem Zuschuss gefördert. Wir verfügen hier über eine langjährige Expertise und haben viele Molkereien und Brauereien mit Transformationsplänen auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität unterstützt.
Welche Informationen bietet ein solcher Transformationsplan in Bezug auf die Meldepflichten gemäß EnEfG?
Als Ergebnisse der Analysen erhalten unsere Kunden einen Gesamtüberblick darüber, an welchen Komponenten, Anlagen beziehungsweise komplexen Prozessen Abwärme entsteht und ungenutzt entweicht. Diese Potenziale werden durch uns wärmetechnisch erfasst, so dass sie mit geringem Aufwand auf der "Plattform für Abwärme" eingestellt werden können. Das IBBL bietet Lebensmittelproduzenten eine umfassende Vorbereitung auf die Abwärme-Meldung und steht mit maßgeschneiderten Beratungsleistungen rund um das EnEfG zur Seite.
Laut § 16 EnEfG ist die Abwärme nach dem Stand der Technik zu vermeiden beziehungsweise die anfallende Abwärme auf die technisch unvermeidbare Menge zu reduzieren. Welches sind hier die Ansatzpunkte für eine Optimierung?
Die geforderten Maßnahmen für die Vermeidung und Nutzung von Abwärme und die sinnvolle Erarbeitung von Energieeffizienzmaßnahmen lassen sich kaum ohne umfassendes Energie- und Wärme-Monitoring umsetzen. Zentraler Ausgangspunkt ist deshalb immer eine Ist-Aufnahme der Produktions- und Sekundärprozesse. Hierfür erfassen unsere Ingenieure ausführlich, wie die im Unternehmen genutzte Energie erzeugt und zur Verfügung gestellt wird. Auch die Verbrauchsseite wird detailliert betrachtet, um in der Maßnahmenbetrachtung daran anknüpfen zu können.
Was ist das Ergebnis einer solchen Ist-Analyse?
Durch die intensive und akribische Prozessdurchleuchtung werden zwei wesentliche Aspekte für die Soll-Konzeptionierung hervorgebracht, nämlich die jeweiligen Potenziale für die Vermeidung und Reduktion von Abwärme. Unsere Erfahrungen aus den Projekten der vergangenen Jahre zeigt, dass dies bei vielen Prozessen der Lebensmittelindustrie in einer Größenordnung von 20 Prozent und mehr möglich ist. Die daraus resultierenden Maßnahmen sind kurz- und mittelfristig umsetzbar und im niedrigstelligen Investitionsbereich angesiedelt.
Wie gehen Sie bei der Bestandsaufnahme und Identifizierung potenzieller Wärmesenken vor? Welches sind die wichtigsten Kenngrößen?
Die Anlagen und Prozesse werden von unseren Experten dahingehend analysiert, welche Differenz, also welcher Verlust, zwischen Input und Output liegt. Je höher dieses Delta ist, desto größer ist auch der Verlust. Nach dem Top-Down-Prinzip betrachten wir die Prozesse mit dem größten Delta zuerst, um die Verluste und mögliche Potenzialausnutzungen detailliert zu analysieren. Sobald wir die Abwärmequellen systematisch identifiziert und quantifiziert haben, steht als nächster Schritt ihre effiziente Nutzung beziehungsweise Integration an, indem sie etwa in nutzbare Prozesswärme umgewandelt wird.
„Grundsätzlich raten wir Kunden, sofern noch keine umfassende Datenstruktur vorliegt, einen Transformationsplan aufzusetzen.“
Haben Sie ein Beispiel, das die Umwandlung von Abwärme in nutzbare Prozesswärme verdeutlicht?
Ein anschauliches Beispiel ist die Pasteurisierung und anschließende Abkühlung von Milch. Hier kann der Heißwasserbereiter eines Pasteurs, welcher standardmäßig mit fossilem Dampf versorgt wird, zusätzlich mit einem Wärmeübertrager bestückt werden, der etwa heißes Wasser aus einer anderen Wärmequelle zur Verfügung stellt.
Das Beispiel zeigt aber auch: Abwärmeangebot und Wärmeabnahme müssen im Unternehmen mengenmäßig und vor allem zeitlich übereinstimmen ...
Die zentrale Frage ist, wie die Lebensmittelhersteller produzieren. Laufen die Prozesse nahezu 24 Stunden an sieben Tagen die Woche? Oder sind, bezogen auf eine Woche, unterschiedliche Produktionsbereiche nur sukzessive in Betrieb? Diese und weitere Betriebsbedingungen sind am Beginn entsprechender Projektaktivitäten zu eruieren. Abhängig von den vorherrschenden Konstellationen lassen sich dann direkte Prozessabläufe gestalten. Jedoch sollte bei den Konzepten immer berücksichtigt werden, dass die aktuell bestehenden Konstellationen eine entsprechende Flexibilität aufweisen müssen. Und auch der Betrieb wird sich mit seinen Anforderungen und Voraussetzungen perspektivisch ändern (müssen).
Wie lassen sich Wärmequellen und Wärmebedarf auf Prozessebene zusammenbringen?
Faktoren wie die Temperatur, die Art der Wiederverwertung und der Zeitpunkt der Entnahme entscheiden darüber, wie viel Wärmeenergie tatsächlich genutzt werden kann. Um hier Planungssicherheit zu erhalten und den Anforderungen gerecht zu werden, ist es nahezu unumgänglich, entsprechende Puffersysteme vorzusehen, wie Wärmeschaukeln, Heißwasserspeicher oder Eisspeicher, so dass sich diese auch später noch integrieren lassen. Eine optimierte Produktionsplanung seitens des Unternehmens kann bei diesen Maßnahmen unterstützen.
Steht viel Wärme zur Verfügung ist der erste Gedanke: Wo kann im Unternehmen mit dieser Wärme etwas beheizt oder getrocknet werden? Doch es gibt auch Technologien zur abwärmegetriebenen Kälteerzeugung. Welche Rolle spielen diese in der Lebensmittelindustrie?
Die Frage stellt sich immer dann, wenn in einen Unternehmen ein extremer Überschuss an Abwärme vorhanden ist, und dieser tatsächlich nicht in eigenen sowie externen Prozessen "untergebracht" werden kann. Dann sollte zumindest eine konzeptionelle Planung aufgesetzt werden, ob bei entsprechendem Kältebedarf der Einsatz einer Ab- oder Adsorptionskälteanlage wirtschaftlich sinnvoll ist.
Welche Möglichkeiten gibt es, wenn sich Abwärmequellen nicht mehr in die betriebsinternen Prozesse reintegrieren lassen?
Sind die Potenziale der Abwärmenutzung im eigenen Unternehmen ausgeschöpft, bietet sich die Weiterleitung der überschüssigen Wärmeenergie an ein anderes Unternehmen in der näheren Umgebung an. Um eine außerbetriebliche Abwärmenutzung planen und umsetzen zu können, müssen genaue Informationen zu Energiemengen, zeitlichen Schwankungen und der Ausfallsicherheit der Wärmequelle vorhanden sein. Einen ersten Aufschluss darüber kann bereits die neue "Plattform für Abwärme" geben. Denn neben den jährlichen Wärmemengen müssen auch die maximal thermische Leistung, Leistungsprofile und Regelungsmöglichkeiten übermittelt werden. Zudem sollten Lebensmittelproduzenten mit den zuständigen Kommunen oder den Stadtwerken Kontakt aufnehmen und klären, ob werksübergreifende Synergien durch die Schaffung von Wärmenetzen genutzt werden können. Ergeben sich keine Lösungsmöglichkeiten in der Nachbarschaft, sollten die Prozesse nochmals geprüft werden, ob es grundsätzlich möglich ist, anderweitige Technologien einzusetzen.
Welche Rolle kann Contracting bei der Umsetzung von Abwärmeprojekten spielen?
Contracting kann im Rahmen von Investitionsvorhaben ein probater Weg sein, um die eigenen Investitionsmittel reduziert zu halten. Auch aus operativer Sicht kann Contracting ein Weg hin zur Versorgungssicherheit sein. Jedoch sollte der Blick für ein Contracting immer ganzheitlich erfolgen. Wir sprechen hier über Projekte mit unterschiedlichen Komplexitätsstufen – von individuellen Einzellösungen über komplexe Objekt- und Prozesslösungen bis hin zu hochkomplexen Verbundlösungen. Aus unserer Praxis kennen wir Lebensmittelproduzenten, die im Rahmen eines Energie-Contractings sowohl positive als auch negative Erfahrungen gesammelt haben.
Das Gespräch führte Mareike Bähnisch, freie Fachjournalistin für Prozesstechnik.