VERLORENES NUTZBAR MACHEN
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Rund zwölf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle fallen jährlich in Deutschland in der Produktion, dem Handel und der Außer-Haus-Verpflegung sowie den privaten Haushalten an. Davon werden schätzungsweise 1,4 Millionen Tonnen der Primärproduktion und 2,2 Millionen Tonnen der Lebensmittelverarbeitung zugeschrieben, wie die Studie "Lebensmittelabfälle in Deutschland – Baseline 2015" des Thünen-Instituts und der Universität Stuttgart ergeben hat. Am Anfang der Lebensmittelversorgungskette entsteht also etwa ein Drittel der Lebensmittelverluste in Deutschland. Neuen Erkenntnissen, die dazu beitragen, Potenziale zu erkennen, Prozesse zu optimieren und Lebensmittelverluste zu vermeiden, kommt deshalb eine große Bedeutung zu.
Mit den Dialogforen Primärproduktion und Lebensmittelverarbeitung als Teil der Nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung widmet sich das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gezielt dieser Aufgabe. Seit Ende 2020 diskutieren hier Expert*innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und den Verbänden gemeinsam an elf Runden Tischen über effiziente Lösungsansätze.
Im November war es an der Zeit, Zwischenbilanz zu ziehen und die bisherigen Ergebnisse aus den laufenden Projekten innerhalb zweier Dialogforen vorzustellen. „Die Akteure der Runden Tische haben hart gearbeitet und bereits starke Hebel identifiziert“, so die ehemalige Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft Julia Klöckner, die zu Beginn der Foren ein Grußwort sprach. Fest steht für Klöckner, dass es darüber hinaus zusätzliche Maßnahmen zu entwickeln gelte. „Wir werden weiterhin nach Ansatzpunkten suchen müssen, um die Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung nachhaltiger zu gestalten. Der Klimawandel schreitet mit seinen direkten Folgen weiter voran. Der Landverbrauch nimmt zu und die Weltbevölkerung wächst. Aus all diesen Gründen ist nachhaltiges Wirtschaften eine der zentralen Aufgaben unserer Zeit“, betonte Klöckner.
Künstliche Intelligenz vermeidet Überproduktion
Großes Potenzial, Verluste in der Lebensmittelproduktion zu reduzieren, hat aus Sicht der Runden Tische im Dialogforum Verarbeitung der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI). Ein Ansatz, den Dr. Tobias Pfaff bereits verfolgt. Der Geschäftsführer der Antegon GmbH informierte die Teilnehmer:innen des Dialogforums, wie sich ein KI-gestütztes Prognosesystem zur Anpassung der Produktion an die Nachfrage in Bäckereien einsetzen lässt. „Viele Betriebe treffen diese Mengenentscheidung immer noch auf der Papierebene und nicht digital“, so Pfaff. Er führte plastisch vor Augen, dass in einer Filialbäckerei bis zu 14.000 Entscheidungen pro Woche gefällt werden müssen. „Unser Ziel ist die komplette Automatisierung dieses Prozesses.“ Das Unternehmen aus Münster hat dafür die cloudbasierte Software FoodTracks entwickelt, die den Bestellvorgang schrittweise digitalisiert.
Das Prinzip dahinter: FoodTracks empfiehlt die optimale Liefermenge auf Basis wichtiger Kennzahlen wie Verkaufs- und Retourenmengen, die an Vergleichstagen angefallen sind. Auffällige Veränderungen etwa beim Umsatz oder der Kundenzahl sind sofort sichtbar. Auf diese Weise sollen sich Überproduktionen, wie sie für große Bäckereien typisch sind, reduzieren lassen. „Gerade in Betrieben mit 20 bis 30 Filialen können dies sechs bis acht Tonnen pro Woche und damit mehrere Tausend Euro sein, die verloren gehen“, so Pfaff. Eine der Bäckereien, bei der die Software bereits zum Einsatz kommt, „spart so etwa 500.000 Stück Retoure pro Jahr ein.“
Insekten als Element der Kreislaufwirtschaft
Und wenn sich Lebensmittelreste trotzdem nicht vermeiden lassen? „Dann gibt man ihnen einen neuen Zweck“, sagt Gia Tien Ngo, Gründer und Geschäftsführer der Alpha Protein GmbH. Als Deutschlands erste automatisierte und industrielle Insektenfarm geht es dem Karlsruher Startup dabei vor allem darum, den Einsatz von Insekten als Lebensmittel weiter nach vorne zu bringen. „Hierzulande fallen jährlich zwei Millionen Tonnen Getreidereste, 1,5 Millionen Gemüsereste und 1,5 Millionen Tonnen Obstreste an, die wir als Futtermittel für Insekten nutzen können“, so Ngo. Damit setzt der Experte auf ein Upcycling-Konzept im Sinne der Kreislaufwirtschaft, bei dem hochwertige Eiweiße aus Nebenprodukten entstehen.
Alpha Protein hat sich auf die Aufzucht von Mehlwürmern spezialisiert. Das so gewonnene Insektenmehl wollen Ngo und sein Team künftig als nachhaltigere Alternative zu Soja und Fischmehl im großen Maßstab anbieten. Einsetzen lässt es sich in der Lebensmittelindustrie, als Futtermittel (für Hühner und Schweine) und in der Pet-Food-Produktion. Der gelbe Mehlwurm wurde in der EU bereits als neuartiges Lebensmittel zugelassen.
Prof. Dr. Georg Dusel von der Technischen Hochschule Bingen untersucht einen ähnlichen Ansatz zur Gewinnung alternativer Proteine aus Insekten. Seine Strategie: Nebenströme wie Traubentrester, Obst- und Gemüsereste sowie Alt-Brot und Backwaren für die Larvenaufzucht der Schwarzen-Soldaten-Fliege nutzen. „Das daraus gewonnene Insektenmehl liefert ein ideales Protein, das wir für Nutztiere teilweise einsetzen können“, hob Dusel in seinem Vortrag hervor. Der Experte für Tierernährung und -hygiene verspricht sich von der Umsetzung Vorteile sowohl für die Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz als auch für die Tiergesundheit. Zudem erarbeiten er und sein Team im Projekt InsectProÖko, welche Einsatzmöglichkeiten die anfallenden Nebenprodukte bieten. Ziel ist es, im Sinne der Circular Economy den Kreislauf komplett zu schließen.
Rohstoffeffizienz durch digitale Marktplätze
Ein weiteres Tool der Kreislaufwirtschaft, das auf beiden Dialogforen als Lösungsansatz diskutiert wurde, konzentriert sich auf die Vermarktung von Überschussmengen – ein Prozess, der mangels Datenbanken bisher oft mühselig war. Das Startup Leroma bietet dafür eine B2B-Rohstoffbörse, quasi ein Ebay für die Landwirtschaft. Weitergegeben werden auf der Online-Plattform Sekundärstoffe und Nebenprodukte sowie überschüssige Restbestände und Halbfertigzeugnisse. Rohstoffe aus der Primärproduktion und der Lebensmittelverarbeitung, die sonst verloren gehen, können so eine neue Anwendung finden, auch durch Einsatz in alternativen Industrien. „Vielen stellt sich zunächst einmal die Frage, wo sie ihre Produkte anbieten können“, wie Marina Billinger, Leroma-Gründerin und CEO, erklärte. Doch nicht nur eine schnelle Vermittlung ist das Ziel. Das Unternehmen will dabei auch neue Geschäftsmodelle aufzeigen. „Die Technologien und Konzepte für das Upcycling von Rohstoffresten gibt es meist schon, sie werden nur noch nicht angewendet“, ist Billinger überzeugt.
Sowohl in der Primärproduktion als auch in der Lebensmittelverarbeitung zählt vor allem die Weitervermarktung von schnell verderblichen Überschüssen zu den größten Herausforderungen – wie sich im Laufe der Workshops, die am Nachmittag der Dialogforen stattfanden, einmal mehr zeigte. Den Teilnehmer*innen beider Veranstaltungen bot sich hier unter anderem die Gelegenheit zur Diskussion mit Amelie Riedesel. Sie ist Managerin des Farm Food Climate Challenge-Programms, das 2020 von der gemeinnützigen Organisation Project Together initiiert wurde und einen zukunftsfähigen Landwirtschafts- und Ernährungssektor mitgestalten will. Über 100 Initiativen zählt es mittlerweile. Eine davon befasst sich mit der Weitervermarktung von überschüssigem Obst und Gemüse über die B2B-Plattform Invisible Foods, die von Co-Founderin Helena Gebhart innerhalb der Workshops vorgestellt wurde. „Wir nutzen Daten und intelligente Algorithmen, um Defekte an den Früchten zu identifizieren, passende Kunden für die Ware zu finden und Einsparungen in Echtzeit zu kommunizieren“, so Gebhart.
Um die Technologie zu trainieren, startet Invisible Foods bei Händlern und Zwischenhändlern für Mangos, um dann mit Bilderkennung auch Landwirt*innen ein Tool an die Hand zu geben, Warenüberschüsse zu identifizieren und über eine Plattform für Abnehmer sichtbar zu machen. „Ein Matching-Algorithmus findet dann den Kunden, der genau diese Qualität und diese Reifestufe abnehmen kann – und zwar rechtzeitig“, erläuterte Gebhart. Dank erster Ergebnisse habe man so eine globale Fast-Food-Kette als Kunden für den internationalen Marktplatz gewinnen können.
Nachhaltigkeit im Unternehmen leben
Ebenfalls diskutiert wurden auf beiden Dialogforen die Themen Transparenz und Kommunikation: Nachhaltigkeitsmanagerin Isabel Both, Westfälische Fleischwarenfabrik Stockmeyer GmbH, ging in ihrem Workshop der Frage nach, wie sich Nachhaltigkeit im Unternehmen leben lässt. „Je mehr Wissensbildung intern betrieben wird, umso wichtiger ist es, Antworten zu finden, wie Nachhaltigkeit messbar gemacht und ein Vergleich von Unternehmen ermöglicht werden kann“, so Both. Ihre Aufgabe als Nachhaltigkeitsmanagerin sei es, alle – von den Personalverantwortlichen über die Controller bis zu den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – in den Prozess einzubeziehen. Denn nur dann sei das Thema in den Köpfen der Mitarbeiterschaft angekommen.
Die betriebsinterne Kommunikation ist ein wichtiger Baustein, um Lebensmittelverluste im Unternehmen zu vermeiden – an diesem Punkt setzte ebenfalls der Workshop von Norbert Reichl, Geschäftsführer des Food Processing-Initiative e.V. in Bielefeld, an. „Wenn wir nur auf technologische und digitale Lösungen setzen, können wir die Herausforderung nicht meistern“, so Reichl. Wichtig sei, dass das Thema von der Führungsebene angestoßen werde. „Gleichzeitig müssen die Mitarbeiter*innen einbezogen, sensibilisiert und motiviert werden, auch eigene Ideen einzubringen und Lösungen mitzugestalten.“
Die Einblicke, die die Teilnehmer*innen beider Dialogforen erhielten, zeigten auch: Um Verluste in der Primärproduktion und Verarbeitung zu reduzieren, ist ein zielgenaues Eingreifen erforderlich, das Fachwissen direkt aus der Praxis benötigt. Im Fokus der derzeit laufenden Arbeiten am Thünen-Institut steht daher, die Datenlage durch eine Marktanalyse zu optimieren. Gemeinsam mit Unternehmen aus der Lebensmittelbranche wird validiert, wie viel tatsächlich pro Sektor an welcher Stelle verloren geht. „Im Moment ist es so, dass wir nur eine grobe Idee davon haben, was wo anfallen könnte“, sagte Dr. Thomas Schmidt, der einen Überblick zur Datenerhebung am Thünen-Institut gab.
Um die Stoffströme genau zu quantifizieren und Ursachen für die Verluste zu ermitteln, wurde eine Umfrage für alle Branchen der Lebensmittelverarbeitung sowie für die Primärproduktion erarbeitet. Mit der Analyse wollen die Wissenschaftler*innen am Thünen-Institut die Grundlage zur Identifikation von Reduktions- und Optimierungspotenzialen liefern. „Unser Ziel ist es, die Bereiche sichtbar zu machen, die die größten Potenziale bieten“, wie auch Jones Athai erläuterte. Im nächsten Schritt wollen die Wissenschaftler:innen dann ihre Erkenntnisse der Branche zugänglich machen und für die Beratung der Unternehmen nutzen.
Best-Practice-Beispiele gesucht
Ebenfalls Teil der Strategie in den Dialogforen ist das Testen geeigneter Maßnahmen in Demonstrationsbetrieben mit anschließender Nachhaltigkeitsbewertung. Wie erfolgreiche Reduktionsmaßnahmen in der Primärproduktion und Lebensmittelverarbeitung aussehen können, wird vom Thünen-Institut in zahlreichen Projekten erprobt. Neben der Direktvermarktung von Produkten und Aufwertung von Restströmen rückt dabei der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in den Vordergrund. Auch eine optimierte Lagerung von Äpfeln oder etwa die Vermarktung von Gemüse ohne Grün sollen Aufschluss darüber geben, welche neuen Ansätze effizient für die Lebensmittelbranche sind. Die Ressourceneffizienz jeder einzelnen Maßnahme wird anhand einer Kosten-Nutzen-Analyse abgeschätzt. „Dazu quantifizieren wir entlang der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – Ökologie, Ökonomie und Soziales – alle Kosten und den jeweiligen Nutzen“, berichtete Dr. Yanne Goossens, Wissenschaftlerin am Thünen-Institut. Anhand der wissenschaftlichen Bewertung will die Expertin herausfinden, mit welchen Best-Practice-Beispielen „sich Lebensmittelverluste auf nachhaltige Art und Weise reduzieren lassen“.
Ziel der Nationalen Reduktionsstrategie ist es, bis 2030 die Lebensmittelverschwendung auf der Einzelhandels- und Verbraucherebene zu halbieren und entlang der Produktions- und Lieferkette die Lebensmittelverluste einschließlich der Nachernteverluste zu verringern. Wichtiges Ziel dieser Strategie ist es, freiwillige Vereinbarungen für die Sektoren Primärproduktion und Verarbeitung zu treffen, die jeweils konkrete Reduktionsziele enthalten und Maßnahmen festlegen, die zu einer deutlichen Reduzierung von Lebensmittelverlusten beitragen. „Die gemeinsamen Zielvereinbarungen zu erarbeiten, ist wesentlicher Inhalt der Aktivitäten der Dialogforen bis Ende 2022“, so Simone Schiller, Geschäftsführerin des DLG-Fachzentrums Lebensmittel, die zusammen mit Professorin Katharina Riehn, Vorsitzende des DLG-Fachzentrums Lebensmittel, als Moderatorin durch beide Online-Konferenzen führte und zum Abschluss einen Ausblick auf die zweite Projektphase gab.
Die Ergebnisse aus den laufenden Arbeiten der Runden Tische sowie aus der Branchenbefragung und den Demonstrationsbetrieben will die DLG gemeinsam mit dem Thünen-Institut im Herbst 2022 vorstellen – bei der nächsten öffentlichen Veranstaltung des Dialogforums "Verarbeitung" sowie des Dialogforums "Primärproduktion". Mareike Bähnisch