WIEDERENTDECKTES MIT NEUEM NUTZEN
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Mit dem Konzept von Plant Based Food hat die Suche nach Lebensmitteln, die das Wohlbefinden steigern sollen, eine neue Stufe erreicht. Gemäß einer Erhebung von Global Data sind es weltweit 60 Prozent der Verbraucher*innen, die sich diesem Trend anschließen. Die Folge: Seit Jahren steigt die Nachfrage nach Produkten, die zu einer gesunden Ernährung beitragen. Vor allem pflanzliche Inhaltsstoffe gelten als gesund, nachhaltig und natürlich. Neben Lebensmitteln und Getränken mit ausgewogenen Nährwerten in Bezug auf Zucker, Fett oder Eiweiß sind Produkte gewünscht, die das Immunsystem, die Darmgesundheit oder den Energiehaushalt unterstützen. Umso wichtiger ist es für Lebensmittelproduzenten zu wissen, welche unterschiedlichen Eigenschaften die Vielzahl pflanzlicher Rohstoffe kennzeichnet und wie sie sich verarbeiten lassen, um optimalen Geschmack und Funktionalität zu erzielen.
Hilfe erhalten sie von Ingredienz-Spezialisten aus der Zulieferindustrie und Wissenschaftlern, die sich diesem Thema widmen. Eine der zentralen Hürden sind dabei die Bitterstoffe, die viele pflanzliche Rohstoffe neben Nährstoffen und funktionellen Ingredients in großen Mengen enthalten. „Damit die heutigen Gemüse- und Obstsorten angenehmer und süßer schmecken, wurden die Bitterstoffe weitgehend herausgezüchtet“, so Michael Gusko, Managing Director von Goodmills Innovation in seinem Vortrag – und das, obwohl sie, „gerade, wenn es sich um Polyphenole handelt, sehr wertvoll im Hinblick auf ihre positive Wirkung für die Gesundheit sind.“
Vom Urgetreide zum Superfood
Exemplarisch hierfür steht für ihn der Tatarische Buchweizen (Fagopyrum tataricum), dessen Ursprünge über 85 Millionen Jahre weit in die Vergangenheit zurück reichen. Das geerntete Pseudogetreide hat von Natur aus einen neutralen Geschmack. „Bringt man bei der Verarbeitung aber das daraus gewonnene Mehl mit Wasser in Verbindung, wird das enthaltene Rutin über das Enzym Rutinase zu Quercetin abgebaut, welches einen bitteren Geschmack verursacht“, erläutert Gusko. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere: Rutin ist in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) therapeutisch verankert. So soll der Verzehr von Tatarischem Buchweizen hohen Blutfettwerten, hohem Blutdruck und Blutzucker entgegenwirken. Entdeckt wurde Rutin 1940 von Albert Szent-Györgyi, der drei Jahre zuvor gemeinsam mit Norman Haworth den Nobelpreis für Medizin und Chemie erhielt. Szent-Györgyi bezeichnete den zu den Flavonoiden zählenden Naturstoff als "Vitamin P", wobei das P für Permeabilitätsfaktor steht. Dahinter verbirgt sich die Eigenschaft, die Durchlässigkeit der Blutgefäße und damit die Mikrozirkulation zu fördern. 1.000 bis 2.000 Milligramm Rutin sind in 100 Gramm Vollkornmehl enthalten. Zum Vergleich: Im einfachen Buchweizen sind es zehn bis 20 Milligramm auf der gleichen Menge.
Gusko ist überzeugt, dass der Tatarische Buchweizen aufgrund dieser positiven Eigenschaften Lebensmittelproduzenten die Möglichkeit bietet, sich kreativ auf dem Markt zu positionieren. Bei Goodmills Innovation durchläuft der Rohstoff einen zweistufigen Veredelungsprozess, bei dem zunächst die Rutinase deaktiviert wird und durch Kochen des Mehls mit Proteinen, das Rutin eine schützende Umhüllung erhält. Dies führt zu einem angenehmen Geschmack und verbessert gleichzeitig die Bioverfügbarkeit des Rutins im Dickdarm. In Form von Crisps steht der Tatarische Buchweizen anschließend für verschiedenste Applikationen zur Verfügung. Bisher kommt er als Ingredienz vor allem in klassischen Backwaren zum Einsatz. Doch auch andere Lebensmittel wie etwa Smoothies oder Kekse lassen sich damit anreichern.
Fettersatz auf rein pflanzlicher Basis
Ein weiterer Rohstoff, für den sich Lebensmittelproduzenten und Verbraucher*innen gleichermaßen interessieren, sind pflanzliche Proteine. Interessant ist ihre Eigenschaft, Fleischkomponenten in veganen Produkten so zu imitieren, dass sie den tierischen Originalen in puncto Geschmack, Textur und Aussehen überzeugend nahekommen. Doch haben sie das Potenzial, auch Fette in Lebensmitteln zu ersetzen, die wichtige Funktion in Rezepturen übernehmen? Sie verbessern die Cremigkeit, sorgen für eine weiche Struktur, stabilisieren Emulsionen und helfen, eine angenehme Viskosität zu erzeugen. Ein technologischer Ansatz zur Reduzierung des Fettgehalts bei gleichbleibendem Genusswert ist der Einsatz von Austauschstoffen. Im Moment werden diese fast ausschließlich auf Basis tierischer Rohstoffe gewonnen. „Dies wollen wir mit einem neuen Fettaustauschstoff ändern“, so Anna Martin vom Freisinger Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung IVV in ihrem Vortrag.
Hintergrund ist die zunehmende Zahl an Menschen mit Laktoseintoleranz, Allergien und Unverträglichkeiten gegenüber tierischen Proteinen sowie dem wachsenden Trend hin zu einer pflanzenbasierten, bewussten Ernährung. Gemeinsam mit Partnern aus der Industrie arbeitet die Wissenschaftlerin an einer Lösung auf pflanzlicher Basis. So soll im Rahmen des Verbundprojektes MIPRO, das im Oktober 2020 mit einer Laufzeit von drei Jahren gestartet ist, ein pflanzlicher Fettaustauscher entstehen, mit dem sich die Fettgehalte in pflanzlichen Lebensmitteln mindestens um 50 Prozent reduzieren lassen. Martin und ihr Team zerkleinern dazu Erbsen- und Lupinenproteine mit Hilfe der Mikropartikulierung thermodynamisch so stark, dass sie im Größenbereich emulgierter Fettpartikel mit 0,1 bis zehn Mikrometer liegen – erst in dieser Größenordnung „zergehen sie ähnlich wie Fetttröpfchen auf der Zunge“, so Martin.
Hinzu kommt: Die mikropartikulierten pflanzlichen Proteine sind in der Lage, die Produktausbeute zu erhöhen und gezielt die sensorischen Eigenschaften zu verstärken. Die Schwierigkeit besteht darin, dass dafür eine kritische Partikelgröße der Proteine erreicht werden muss. Technologien, die hierfür häufig zum Einsatz kommen, sind die thermoplastische Kochextrusion, die Behandlung der Proteine im Schabewärmetauscher oder eine Kombination aus Wärmetauscher und Hochdruckhomogenisator. „Im Moment sind die etablierten Methoden der Mikropartikulierung noch auf Proteine tierischen Ursprungs optimiert“, bestätigt Martin. Pflanzliche Proteine bestehen überwiegend aus großen globulären Speicherproteinen, welche weitaus höhere Molekulargewichte als etwa Molkenproteine aufweisen. Das Ziel des Forschungsvorhabens ist es, das Verfahren so anzupassen, dass „die pflanzlichen Proteine ein optimales Mundgefühl erzeugen, welches nicht als sandig oder körnig, sondern als cremig und glatt charakterisiert werden kann.“ Auf diese Weise will die Lebensmitteltechnologin pflanzlichen Fettersatz für den Einsatz in einer breiten Palette an Lebensmitteln zugänglich machen.
Upcycling im Ursprung
Dirk Naujoks, Director Concentrate & Frozen Fruit bei Bösch Boden Spies (BBS) in Hamburg, konzentrierte sich in seinem Vortrag auf die Kakaofrucht als neu entdeckten Rohstoff für die Lebensmittelindustrie. „Die Kakaofrucht ist eine nährstoffreiche Frucht, die einiges zu bieten hat. Sie enthält neben Ballaststoffen auch verschiedene Vitamine und Mineralstoffe wie zum Beispiel Magnesium, Mangan, Kalium und Niacin“, erklärte Naujoks. Aus diesem Grund sind aus seiner Sicht nicht nur die Kerne für die Lebensmittelproduktion interessant. Zum Hintergrund: Die Gattung der Kakaobäume in der Familie der Malvengewächse umfasst etwa 20 Arten. Kommerziell angebaut werden nur drei Sorten des Theobroma Cacao: Criollo, Forastero und Trinitario. Allen Früchten ist gemein, dass sie etwa 15 bis 25 Zentimeter lang werden und bis zu 60 Samen beherbergen.
Das Fruchtfleisch, die sogenannte Fruchtpulpe, umgibt jede Kakaobohne einzeln. Genau wie jedes andere Fruchtfleisch hat die Pulpe ihren eigenen, exotisch fruchtigen Geschmack. Dies bietet Herstellern laut Naujoks neuen Spielraum für die Entwicklung ihrer Produkte – ob Getränke und Smoothies oder Desserts und Eiscreme. Auch Schokolade, die mit Fruchtsaft oder Fruchtpulpe statt mit Zucker gesüßt wird, lässt sich damit herstellen. Vorausgesetzt die ganze Frucht wird verwertet. Ganz im Sinne des sogenannten Upcyclings – bei dem scheinbar nutzlose Stoffe in neuwertige Produkte umgewandelt werden. Umgesetzt wird dieses Prinzip bereits bei Cabosse Naturals. Das Start-Up von Barry Callebaut launchte Ende Oktober 2020 sein Produktsortiment aus 100 Prozent reinen Kakaofrüchten. Dabei verarbeitet Cabosse Naturals die gesamte Frucht zu einer Reihe von Kakaofruchtzutaten – vom Fruchtfleisch über Saft und Konzentrat bis hin zur Schale, die zu feinem Mehl verarbeitet wird.
BBS ist seit vergangenem November Partner von Cabosse Naturals und kann so eine Reihe von 100 Prozent natürlichen Inhaltsstoffen aus dieser Frucht anbieten. Hinzu kommt: Rund 14 Millionen Tonnen Kakaofrüchte werden jedes Jahr weltweit geerntet, um daraus Schokolade herzustellen. Wurden früher 70 Prozent der Früchte als Abfall weggeworfen, da nur ihre Kerne verwendet wurden, kommt heute hingegen die gesamte Frucht zu 100 Prozent zum Einsatz. Naujoks ist überzeugt: Dies eröffnet nicht nur der Lebensmittelindustrie eine innovative neue Zutat, sondern auch den Bauern ein zusätzliches Einkommen. Mareike Bähnisch